Angriff auf Europas Gentechnikfreiheit

Ein Positionspapier der EU-Kommission fordert die Überarbeitung der Gentechnik-Gesetzgebung – gegen eine Absenkung der Sicherheitsstandards für neue Gentechnik formiert sich breiter Widerstand

Nicht nur Imker*innen und Bienen sind in den ersten Frühlingswochen aktiv ge­worden. Ein Schwarm aus 94 zivilgesellschaftlichen Organisationen hat sich zu einer breiten Allianz zu­sammengeschlossen. Mit dabei sind Tier-, Natur-, und Verbraucherschützer*innen, Kirchengruppen, Jugend- und Klima­schutzbewegungen sowie Verbände und Stiftungen aus den Bereichen soziale Ge­rechtigkeit, Lebensmittel- und Landwirt­
schaft einschließlich der Imkerei. Mitte April hat die Allianz ein gemeinsames Positionspapier veröffentlicht, an dem die Aurelia Stiftung maßgeblich mitgearbeitet hat.

Droht eine Deregulierung neuer Gentechnik?

Die NGOs warnen: Unsere Gentechnik­freiheit ist bedroht. Das Freisetzen gen­technisch veränderter Tiere und Pflanzen könnte unüberschaubare Folgen für das Ökosystem haben. Ohne strenge Risiko­prüfung und Kennzeichnung dürfe Gen­technik weder in die Umwelt noch auf die Teller der Verbraucher*innen gelangen, so die Allianz.Nachdem der Europäische Gerichts­hof 2018 entschieden hatte, dass auch neue Gentechnik streng reguliert werden muss, beauftragten die EU-Staaten die EU-Kommission damit, deren Rechts­status zu prüfen. Das Ergebnis liegt nun vor. Die Kommission sieht den rechtlichen Rahmen für „neue genomische Techniken“ als „nicht mehr zweckmäßig“ an und lässt durchblicken, dass das Risikomanagement für Crispr/Cas & Co. künftig „flexibler“ gehandhabt werden soll. Im Report der Kommission ist viel von den „Potentialen“ der neuen Techniken für die Wirtschaft die Rede, kaum etwas von deren Risiken für das Ökosystem. Bereits vor der Veröffentlichung des Reports gab es scharfe öffentliche Kritik daran, dass die Gentechnik-Industrie maßgeblichen Einfluss auf dessen Ergeb­nis nehmen konnte. Von den Interessen­gruppen, die von der EU-Kommission konsultiert wurden, kamen 74 Prozent aus Industriebranchen, die von einer De­regulierung profitieren würden. Nur 14 Prozent waren NGOs, zehn Prozent kamen aus der Landwirtschaft und nur zwei Pro­zent der Befragten waren Forschende.

Umweltministerin Schulze: Auch neue Gentechnik bleibt Gentechnik

Nach der Stellungnahme der EU-Kom­mission müssen nun die Bürger*innen, Mitgliedstaaten und das EU-Parlament darüber beraten, wie neue Gentechnik künftig genutzt werden soll. Zweifel daran, ob dieser Prozess ausgewogen und transparent verlaufen wird, sind an­gesichts der aggressiven Einflussnahme der Gentechniklobby auf den bisherigen Konsultationsprozess angebracht. Die gentechnik-kritischen Stimmen werden viel Unterstützung aus der Zivilgesellschaft brauchen, um die be­stehende, verbraucherorientierte Gen­technik-Gesetzgebung zu erhalten. Auch Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) spricht sich deutlich gegen eine Aufweichung des geltenden Gentechnikrechts aus. Die bisherige Erfahrung zeige, dass genmanipulierte Pflanzen nicht zur Klimaanpassung der Landwirtschaft oder zur Pestizid­reduktion beitragen. „Es ist zu be­fürchten, dass die neue Gentechnik genau das Agrarsystem verlängert, das viele der Probleme, die es auf den Äckern heute gibt, selbst verursacht hat“, warnt die Ministerin in einer Stellungnahme.

Gentechnik ist keine Lösung für globale Krisen

Bis es tatsächlich zu einer Änderung der Gentechnik-Regulierung kommt, dürften noch einige Jahre vergehen. In dieser Zeit wird es darauf ankommen, ob die 81 Pro­zent der Zivilgesellschaft, die Gentechnik auf Acker und Teller ablehnen, mobilisiert werden können. Das Wahlkampfjahr 2021 dürfte eine erste gute Gelegenheit sein, den Respekt vor dem Bürgerwillen einzufordern. Der Schutz von Mensch, Biene und Natur wie auch die Wahlfreiheit der Verbraucher*innen, gentechnikfreie Produkte kaufen zu können, sind Werte, für die es sich politisch zu kämpfen lohnt.

Die öffentliche Debatte über neue Gen­technik hat gerade erst begonnen. Man kann nur hoffen, dass sie von Sachlichkeit, Argumenten, interdisziplinärem Wissen­
schaftsverständnis und weniger von kurzfristigen wirtschaftlichen Interessen geprägt sein wird. Hoffnung macht dabei, dass immer mehr Menschen aus der Klimabewegung erkennen, dass das Ge­schäftsmodell Intensivlandwirtschaft eine Sackgasse ist, die Klima und Artenvielfalt schädigt. Es wäre gefährlich, dieses Mo­dell durch Gentechnik noch „effizienter“ machen zu wollen. Auch Hunger lässt sich nicht mit Agrogentechnik bekämpfen. Dashaben erst kürzlich das Wissenschafts­netzwerk ENSSER und die Vereinigung „Critical Scientists Switzer­land“ in einem gemeinsamen Positions­papier aufgezeigt. Gerade die Klimabewegung hat erkannt, dass wir keine Wunderpflanzen zur Lö­sung der globalen Krise brauchen, son­dern eine echte ökologische Agrarwende. Es braucht keine noch tieferen Eingriffe in die Natur, es braucht im Gegenteil mehr Nachhaltigkeit. Agrogentechnik würde die strukturellen Probleme der Agrarindustrie fortschreiben. Lassen wir uns als Gesellschaft ruhig einmal von der Biene inspirieren, die ihren Wohlstand seit Jahrmillionen im Einklang mit der Natur vermehrt.
Mit der Unterschriftenkampagne „Schützt die Biene vor Gentechnik“ macht die Aurelia Stiftung auf die unterschätzten Risiken neuer Gentechnik aufmerksam. Mehr Informationen unter www.biene-gentechnik.de

Von Bernd Rodekohr, Leitung der Kampagne „Schützt die Biene vor Gentechnik“ der Aurelia Stiftung. Dieser Artikel erschien zuerst im Magazin der Aurelia Stiftung, Sommer 2021.

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