420.000 für Wahlfreiheit und Risikoprüfung & keine Mehrheit für Agro-Gentechnik im Bundestag

Gemeinsam mit den deutschen Verbänden des Bündnisses „Nicht hinter unserem Rücken: Kein Freifahrtschein für neue Gentechnik in unserem Essen!“ hat die Aurelia Stiftung 420.757 Unterschriften gegen die drohende Freigabe von Agro-Gentechnik ohne Risikoprüfung und Kennzeichnung an die Ministerien für Landwirt­schaft und Umwelt übergeben. Drei Tage vor der Übergabe der Unterschriften vor dem Bundeskanzleramt fand im Bundestag eine Expert*innen-Anhörung zu Neuen Genomischen Techniken (NGT) statt. Für Gentechnik in der Landwirtschaft gab es auch dort keine Mehrheit.

Über 50 Organisationen aus Umwelt- und Verbraucherschutz sowie Land- und Lebensmittel­wirtschaft fordern eine konsequente Regulierung gentechnischer Verfahren und Produkte. Warum dies auch in Zukunft notwendig ist, machten die Vertreter der Verbände am 1. Dezember 2022 bei der Übergabe der Unterschriften an die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Bettina Hoffmann (Bundesumweltministerium) deutlich.

Florian Schöne, Geschäftsführer Deutscher Naturschutzring (DNR): „Gentechnisch veränderte Organismen können, wenn sie einmal in die Umwelt freigesetzt wurden, nicht zurückgeholt werden. Landwirtschaft findet in offenen Ökosystemen statt. Veränderungen in der landwirtschaftlichen Produktion wirken auch auf das hochkomplexe Netzwerk von Organismen in und auf Boden, Wasser und Luft. Auch bei neueren gen­technischen Verfahren sind „off-target-Effekte“ zu erwarten, die Risiken für die Umwelt bedeuten können.“

Georg Janßen, Bundesgeschäftsführer Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL): „Bäuerinnen und Bauern wollen auch in Zukunft das Recht haben, gentechnikfrei zu erzeugen. Voraussetzung dafür ist die strikte Regulierung auch der neuen Gentechniken nach EU-Gentechnikrecht und die Umsetzung des EU-Vorsorgeprinzips. Nur so können wir uns vor Gentechnik-Verunreinigungen im Saatgut, in Futtermitteln und in unseren Ernten schützen.“

Peter Röhrig, geschäftsführender Vorstand Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW): „Gentechnik in der Landwirtschaft schafft Abhängigkeiten durch Patente und ist riskant. Für eine sichere Ernährung, die Böden und Wasser, Artenvielfalt und Klima schützt, sorgt der Öko-Landbau. Bio wirtschaftet ohne Gentechnik – und das soll so bleiben!“

Unterschiede zur klassischen Züchtung

Hintergrund der Petition ist die drohende Deregulierung des Agro-Gentechnik-Rechts in der EU. Ganz im Sinne der großen Konzerne plant die EU-Kommission einen „Freifahrt­schein“ für Gentechnik-Pflanzen, bei denen zwar kein artfremdes Erbgut eingebaut wurde, deren Erbgut jedoch mit Genscheren manipuliert wurde.

Die Pläne zur Deregulierung sind hoch umstritten. Denn die NGT sind keineswegs so präzise wie von Konzernvertreter*innen oft behauptet. Durch technische Fehler, aber auch durch beabsichtigte Änderungen am Erbgut mit den NGT können ungewollte Effekte auftreten. Neue, ungeprüft freigesetzte Inhaltsstoffe oder Merkmale könnten wiederum die Kommunika­tions- und Nahrungsnetze von Ökosystemen irreversibel stören oder schädigen. Zumal „Genome Editing“ Veränderungen ermöglicht, die mit klassischer Züchtung in der Regel gar nicht möglich sind und die in der Natur normalerweise nicht stattfinden. Die Genschere kann mehrere Gene gleichzeitig verändern – auch solche, die als „Sicherheitskopien“ dienen.

Die Gentechnik-Methode Crispr-Cas kann zudem anders als die herkömmliche Mutationszüchtung direkt in besonders geschützte Bereiche des Genoms eingreifen. Sollten derart veränderte Pflanzen sozusagen als „invasive Arten“ ohne strenge Risikoprüfung und ohne Kennzeichnung freigesetzt werden, ließen sich deren Wechselwirkungen untereinander und die Auswirkungen auf das Ökosystem nicht mehr kalkulieren.

Davor warnt auch die Biologin und Molekulargenetikerin Dr. Ricarda A. Steinbrecher, Mitglied der internationalen Experten Gruppe (AHTEG) zur Synthetischen Biologie der UN Konvention für Biologische Vielfalt: „Genome-Editing ist also folglich in der Lage, evolutionäre Grenzen zu durchbrechen, mit noch nicht untersuchten und daher auch nicht vorhersagbaren Folgen.“

Keine Mehrheit für Gentechnik in der Landwirtschaft

Auch bei der Anhörung zur Agro-Gentechnik im Deutschen Bundestag am 28. November bemängelten die geladenen Sachverständigen, dass es noch viele offene Fragen zur NGT in der Landwirtschaft gebe. Zur Diskussion stand ein Antrag der CDU/CSU-Fraktion, in dem die Deregulierung des strengen EU-Gentechnikrechts gefordert wird, um die „landwirtschaftliche Produktion zukunftsfähig zu gestalten“.

Der Antrag der Union fand keine Mehrheit im Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft. Aufgrund von Spekulation und bloßen Annahmen bestimmte NGT aus der GVO-Gesetz­gebung herausnehmen zu wollen, sei unwissenschaftlich und unverantwortlich, so Heike Moldenhauer, Generalsekretärin der European Non-GMO Industry Association (ENGA). Gefordert wurde vielmehr eine grundlegende Umstellung des Agrarsystems (Agrarwissen­schaftlerin Dr. Eva Gelinsky, Mitglied der Eidgenössischen Ethikkommission) und eine interdisziplinäre Technikfolgenabschätzung der NGT (Dr. Ricarda A. Steinbrecher, EcoNexus).

Ebenfalls kritisch bewertete die Agrarwissenschaftlerin Prof. Dr. Maria Renate Finckh von der Universität Kassel den Unionsantrag. Sie stellte sich die Frage, ob die Antragstellenden überhaupt verstanden hätten, dass auf die Herausforderungen des Klimawandels nur im System geantwortet werden könne. So ergebe es zum Beispiel keinen Sinn, in Reaktion auf Trockenheit Pflanzen zu züchten, die ausschließlich trockenresistent sind, weil nie sicher vorhergesagt werden könne, welches Wetter das kommende Jahr bringe. Die Klimakrise produziere nicht vorhersehbare, katastrophale Wetterbedingungen.

Auf der Seite der Befürworter*innen einer Deregulierung rief die Biologin Svenja Augustin dazu auf, Ängste vor Mutationen abzulegen. Der Verwaltungsrechtler Prof. Hans-Georg Dederer von der Universität Passau erhofft sich Produktivitätssteigerungen der Landwirt­schaft. Auch der Pflanzengenetiker Prof. Dr. Nicolaus von Wirén vom Leibniz-Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung (IPK), sieht keinen Grund, gentechnisch modifizierte Pflanzen anders zu bewerten als solche, die mit klassischer Züchtung erzeugt wurden. Eine solche Unterscheidung von NGT-Pflanzen und konventionell gezüchteten Pflanzen hatte der Europäische Gerichtshof aufgrund der „Geschichte der sicheren Verwendung“ (history of safe use“) konventionell gezüchteter Pflanzen getroffen.

Weitere Stellungnahmen zur Anhörung kamen unter anderem vom Bundesverband Ökologische Lebens­mittelwirtschaft (BÖLW), vom Verband Lebensmittel ohne Gentechnik e.V. (VLOG) und von der Aurelia Stiftung. Die Stellungnahmen wurden an die die Sprecher*innen für Ernährung und Landwirtschaft der sechs im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen weitergeleitet. Hier finden Sie die Stellungnahme der Aurelia Stiftung mit wichtigen Argumenten gegen NGT und für eine biodiversitätsfreundliche ökologische Landwirtschaft.

Eine Aufzeichnung der Anhörung sowie die Stellungnahmen der Gutachter*innen sind hier auf der Website des Deutschen Bundestages einsehbar.

Wie geht es nun weiter?

Die Aurelia Stiftung wird sich kommenden Jahr intensiv für die Beibehaltung der Kennzeichnungspflicht und für eine strenge, individuelle Prüfung der (Umwelt)Risiken von allen Pflanzen einsetzen, die mittels NGT verändert wurden. 2023 wird ein entscheidendes Jahr sein für die Bewahrung der Ernährungssouveränität der Bürger*innen und für den Schutz der Biene. Bis Juni 2023 will die EU-Kommission konkrete Vorschläge zur Änderung des Gentechnikrechts vorlegen. Durch eine Deregulierung der Agrogentechnik wäre das Erfolgsmodell des bienenfreund­lichen und gentechnikfreien Ökolandbaus ebenso gefährdet, wie das Recht der Bürger*innen, selbst über ihre Ernährung zu bestimmen und über die Art und Weise, wie diese produziert wird.

Leider gibt es Hinweise darauf, dass die Europäische Kommission einen „Kuhhandel“ zulasten des Vorsorgeprinzips zu arrangieren versucht. Um Kritiker*innen ihrer Pläne zum Abbau von Pestiziden zu beschwichtigen, könnte sie eine Liberalisierung neuer Gentechniken in Aussicht stellen. Das darf nicht passieren! Die bestehende klare Kennzeichnung und die strenge individuelle Risikoprüfung aller gentechnisch veränderten Pflanzen nach dem Vorsorgeprinzip der EU darf zum Schutz der Verbraucher*innen, der Biene und des Ökosystems nicht „wegliberalisiert“ werden.

Weitere Informationen:

Foto: Volker Gehrmann

Von Bernd Rodekohr, Leitung der Kampagne „Schützt die Biene vor Gentechnik“ der Aurelia Stiftung. Dieser Artikel erschien zuerst auf der Website der Aurelia Stiftung, Dezember 2022.

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